Barmherzig ohne Beschönigungen

Die Güte des HERRN ist’s,
dass wir nicht gar aus sind,
seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
sondern sie ist alle Morgen neu,
und deine Treue ist groß.

Klagelieder 3,22-23

Unser Monatsvers für Oktober ist aus den Klageliedern. Ich weiß nicht, ob du schon mal diese Ecke der Bibel aufgesucht hast. Man kann sagen, dass es eine ziemlich dunkle Ecke ist. Zum einen, weil dieses Bibelbuch etwas schwer zu finden ist – in den christlichen Bibeln wurde es nach Jeremia zwischen die großen Propheten Jesaja, Jeremia und Hesekiel gequetscht. In der hebräischen Bibel gehört es an eine ganz andere Stelle. (Wenn du dich genauer mit allen diesen Fragen beschäftigen willst, dann sei dir der entsprechende Artikel „Klagelieder“ im WiBiLex empfohlen, dem Wissenschaftlichen Bibellexikon https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex).

Bild von Rembrandt – Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems (1630)

Rembrandt – Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems (1630)

Und dann sind die Klagelieder eine eher dunkle Ecke, weil es um Leid, Trauer und Verzweiflung geht. Man geht davon aus, dass sie ab 587 v. Chr. entstanden sind – kurz nach der Zerstörung von Stadt und Tempel durch die Babylonier in Jerusalem. Sie setzen sich mit der Frage auseinander, warum Gott dieses Leid gewollt oder mindestens zugelassen hat, was das für den Glauben bedeutet. Von der Form her gibt es ausführliche Schilderungen des trostlosen Ist-Zustands, meistens in der Wir-Perspektive. Nur in Kapitel drei klagt und betet eine Einzelperson.

Wenn wir uns die Zeit nehmen, auch mal diese dunkle Ecke der Bibel aufzusuchen, dann werden wir mächtig herausgefordert. Die Autoren lassen nicht zu, dass wir das Leid oder das Böse, das wir erfahren, einem Bösen oder dem Teufel zuschieben. Weil wir Gott verständlicherweise dafür nicht verantwortlich machen wollen. Doch in Kapitel 3,37-38 lesen wir: Von wem heißt es: Er sprach und es geschah? Geschieht denn nicht alles auf den Befehl des Herrn? Das Böse wie das Gute, beides geschieht doch auf Anordnung des Höchsten. Das ist für uns eine echte Zumutung, die wir sonst doch gerne bekennen: „Gott möchte nur Gutes für dich, so dass dein Leben wunderbar gelingt!“

Und noch etwas lässt der Text nicht zu. Dass wir uns als Opfer fühlen und Gott deshalb Vorwürfe machen. In Kapitel 3,42 werden wir in die Verantwortung genommen: Ja, wir sind gottlos und ungehorsam gewesen! Das Leid ist eine Folge der Gottlosigkeit, des Ungehorsams Gott gegenüber. Deshalb wird mit Nachdruck zur Umkehr aufgerufen. Im empfehle sehr, das ganze Kapitel 3 einmal in Ruhe zu lesen. Es ist unangenehm, es bürstet jedes oberflächliche Verständnis vom „lieben Gott“ gegen den Strich.

Doch – und das sollten wir nicht übersehen – die Klage bleibt nicht in einer depressiven Trostlosigkeit stecken. Das Leiden wird schonungslos benannt und die eigene Verantwortung ebenso. Gott wird nicht „in die Tasche gesteckt“ und sein Handeln irgendwie schöngeredet. Aber dennoch bleibt alles umfangen von der Güte, Barmherzigkeit und Treue Gottes. Unser Monatsvers ist nicht umsonst so bekannt geworden. Der Beter wendet sich im Leid nicht von Gott ab, sondern bleibt im Gespräch mit Gott. Er ruft zur Umkehr, bekennt seine Schuld und verlässt sich auf die Zuwendung Gottes.

Es gibt Zeiten und Erfahrungen, die uns an Gott zweifeln lassen. Weil die Wirklichkeit so wenig zu dem passt, was wir uns von Gott erhoffen. Doch dieses kleine versteckte Buch der Bibel will uns zum Glauben ermutigen, zum Vertrauen in Gottes Güte, Barmherzigkeit und Treue. Oft genug werden wir die drängendsten Fragen nicht beantwortet bekommen. Aber wir dürfen uns darin in Gott gehalten und von ihm begleitet glauben. Was mehr ist, als ein logisches Wissen.

Axel Schlüter