Das biblische „Du“ und die Kraft der Gemeinschaft

So spricht der HERR, der dich geschaffen hat und dich gemacht hat:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
(Jesaja 43,1)

In Jerusalem gibt es die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem. Das bedeutet so viel wie „Denkmal und Name“ und leitet sich vom Bibelvers Jesaja 56,5 ab: „Und ihnen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen („Yad Vashem“) geben … der nicht getilgt werden soll.“ Eine zentrale Einrichtung der Gedenkstätte ist die Namensdatenbank, in der bisher 4,8 der 6 Millionen ermordeten Juden erfasst werden konnten. (Siehe hier.) Die Nazis hatten allen Gefangenen in den KZs eine Nummer auf den Unterarm tätowiert, um ihnen die Persönlichkeit zu nehmen, sie zu entmenschlichen. Niemand sollte sich mehr an sie erinnern. Das Gegenteil ist geschehen: Während die Namen der Mörder vergessen sind oder nur mit Abscheu genannt werden, bleiben die Namen der Opfer für immer in ehrenvollem Gedenken.

Namen sind mehr als nur eine Bezeichnung, so dass sie durch Nummern ersetzt werden könnten. Auch in der Bibel spielen sie eine große Rolle. Es sind nicht nur Vornamen wie heutzutage, die eine Zeit in Mode sind und dann von den frischen Eltern eher gemieden werden. Als wir unseren ältesten Sohn benannt hatten, kamen wir uns sehr einzigartig vor. Bis wir dann in der Grundschule feststellen mussten, dass etliche andere Eltern auf die gleiche geniale Idee gekommen waren. Biblische Namen haben in der Regel eine Bedeutung – zumindest bei den wichtigen Leuten. Und manchmal werden die sogar geändert, wenn dadurch der Auftrag Gottes deutlicher wird. Siehe Jakob => Israel (1. Mose 32,29) oder Simon => Petrus (Johannes 1,42) oder die bedauernswerten Kinder der Propheten Jesaja (Jesaja 8,3) oder Hosea (Hosea 1,3-6).

Was passiert da eigentlich, wenn wir beim Namen genannt werden? Nun, wir fühlen uns persönlich angesprochen, als Person gemeint. Unser Wochenvers hat diese Qualität, auch wenn dort natürlich nicht unser Name vorkommt. Aber in dem „Du“ finden wir uns gleich wieder. Eigentlich aber sind wir gar nicht gemeint – zumindest nicht ursprünglich. Dieser Abschnitt Jesaja 43,1-7 wendet sich an das Volk Gottes. Wörtlich heißt es „So spricht der HERR, der dich erschaffen hat, Jakob, und der dich geformt hat, Israel“. Jakob ist der dritte der Erzväter (nach Abraham und Isaak), der – wie schon angemerkt – von Gott den Namen Israel bekommt (1. Mose 32,23-33). Dieser Name wird dann auf seine zwölf Söhne ausgeweitet, so dass schließlich mit Jakob oder Israel das ganze Volk gemeint sein kann. Daher also die Einzahl in dieser Anrede.

Nun sind wir alle Kinder der Aufklärung und der Romantik. Durch diese geistesgeschichtlichen Epochen (ab etwa 1700) sind die Menschen – zumindest in unserem Teil der Welt – aus der Masse von Volk, Stamm, Sippe oder Familie herausgetreten und nehmen sich als Individuum, als Einzelperson wahr. Man kann das bedauern oder feiern, in unserem Bewusstsein ist seitdem das Ich der Nabel der Welt. Wie geht es mir (mit etwas)? – das ist die zentrale Frage in allem geworden. Was denke ich, wie erlebe ich es, was will ich?

Klingt das zu egoistisch? Eine kleine Übung zur Selbstüberprüfung: Wie geht es dir, wenn jemand zu dir sagt: „Du bist ja ganz die Mutter oder ganz der Vater!“ Oder: „Das hat deine Oma oder dein Opa auch immer so gesagt oder getan!“ – Fühlst du dich dabei wohl und geborgen? Im Sinne von: Ja, ich bin ganz Teil meiner Familie oder Sippe. Wie der Vater, so der Sohn. Wie die Mutter, so die Tochter. Ist das schön. Oder aber hast du das Gefühl, bei solchen Sätzen als Persönlichkeit nicht ausreichend wahrgenommen zu werden? Ich bin doch nicht so wie meine Mutter oder wie die Oma, wie mein Vater oder wie der Opa! Vielleicht möchtest du gar nicht mit deiner Familie identifiziert werden. Und statt Familie könnte man jetzt auch die Kultur, die Landsleute, das Volk nehmen.

Ich rede jetzt nicht von einer notwendigen Phase der Entwicklung, wo sich Teens von ihren Eltern lösen müssen. Sondern es geht mehr um das Selbstbewusstsein, um das Verhältnis von der Einzelperson zu der Gruppe. Es wäre sehr spannend herauszufinden, wie Menschen vor diesen Entwicklungen unseren Wochenvers gehört haben. Es könnte ja sein, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen wären, ihn auf sich selbst zu beziehen. Sie haben selbstverständlich gedacht: Gott meint damit unser Volk – entweder das Volk Israel oder später auch das christliche Volk Gottes. Es wäre spannend herauszufinden, wie Menschen „ich“ erleben, die sich immer und zuerst als Teil einer größeren Gemeinschaft verstehen.

Gehen wir doch mal bewusst diesen Schritt in Richtung Gemeinde. Im gesamten Neuen Testament (NT) wird zwar deutlich, dass der Glaube eine persönliche Angelegenheit ist. „Wenn du mit deinem Mund bekennst: Herr ist Jesus – und in deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten auferweckt, so wirst du gerettet werden.“ (Römer 10,9) Trotzdem wird der/die einzelne hineingenommen – durch die Taufe (1. Korinther 12,12-13) – in die Gemeinschaft des Leibes Christi, der Gemeinde. Die meisten Texte im NT sprechen Menschen in der Mehrzahl an. Das „Ihr“ und „Wir“ überwiegt bei Weitem.

Wie ist das denn, erlebst du dich als Teil des konkreten Leibes Christi, unserer Gemeinde in Weinstadt-Endersbach? Weißt und fühlst du dich eingebunden in diese Gemeinschaft? Oder gehst du bestenfalls „zur Kirche“, besuchst einen Gottesdienst, der auch online oder ganz woanders und mit anderen Leuten stattfinden könnte? Und wie lesen wir als „Gemeinde-Ich“ unseren Wochenvers? Gilt diese Zusage auch uns als kleinem Teil des Volkes Gottes? Von Gott in Jesus Christus erschaffen, erlöst und gerufen. Fürchte dich nicht, du bist mein. Du, Gemeinde Jesu.  

Ich wünsche jedem und jeder von uns, dass wir Gemeinde nicht nur mehr oder weniger regelmäßig im Gottesdienst erleben. Sondern dass wir auch über die Woche immer wieder etwas von unserem Alltagsleben teilen, einander wahrnehmen und miteinander unserem Herrn, Jesu Christus dienen und ihn anbeten. In diesem Zusammenhang die herzliche Einladung, am Mittwoch das Sommercafé zu besuchen. Einfach etwas Zeit mitbringen zum Erzählen und Zuhören, als Gast und Gastgeber.

Axel Schlüter