Das ist unser Gott
Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen,
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Jesaja 42,3a
Wie wirkt unser Wochenvers auf dich? Ich will mal zwei Reaktionen aufzeigen. Vielleicht sagst du dir: Hä? Was soll mir dieser Bibelvers sagen? Was für ein Rohr soll da geknickt sein, was für eine Kerze nur noch glimmen? Ist das hier ein Auszug aus einem Lehrbuch für Installateure oder Kunsthandwerkerinnen? Zwei Bilder, die dir nicht einleuchten. Außerdem, wer ist der „Er“, von dem hier die Rede ist?
Die Inspirationen sind diesmal etwas länger geworden. Sie unterteilen sich in eine (A) historische Einordnung und eine (B) Übertragung in unser Leben. |
Eine mögliche Reaktion. Vielleicht bist du aber biblisch geschult und lange genug dabei, dass dich dieses Bibelwort direkt ermutigt. Du weißt: Der „Er“ ist Jesus, und die Zusage besteht darin, dass er Menschen, denen es schlecht geht, aufrichten, durchtragen und erneuern wird. Es geht zwar um Schilfrohre oder funzelnde Öllämpchen – soviel Hintergrundwissen muss sein –, aber das Bild spricht doch von Gottes Zuwendung in Jesus Christus zu uns.
Wenn wir so ein Bibelwort isoliert lesen, haben wir eine ganze Menge Vorwissen im Gepäck – oder eben nicht. Entsprechend unterschiedlich können wir etwas damit anfangen – oder eben nicht. Ob so oder so, es lohnt sich, den Blick zu weiten und den Vers nicht nur isoliert zu betrachten, sondern den Kontext einzubeziehen. Damit machen wir einen wichtigen Schritt in der Bibelauslegung; wir betrachten einen Bibeltext zunächst historisch und nicht „nur“ erbaulich ganz persönlich für uns.
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Die historische Einordnung führt uns in das Buch des Schriftpropheten Jesaja. Die theologische Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass dieses Bibelbuch aus zwei oder drei Teilen zusammengestellt wurde. Während der erste Teil (Proto)Jesaja mit den Kapiteln 1-39 aus der Zeit 736-701 v.Chr. stammt, sind die Teile zwei (Deutero)Jesaja 40-55 und drei (Trito)Jesaja 56-66 aus der Zeit des Exils (550-540) und später. Mit großer Sicherheit kann man sagen, dass mit Kapitel 40 (Tröstet, tröstet mein Volk!) etwas Neues beginnt.
Und nun gibt es im zweiten Teil, dem Trostbuch Gottes an sein Volk im babylonischen Exil, eine Besonderheit, die gar nicht so einfach zu verstehen ist. In den Abschnitten Jesaja 42,1-9; 49,1-13; 50,4-11 und 52,13 – 53,12 finden wir die so genannten „Gottesknechtslieder“. Da ist die Rede von einem Gesandten Gottes, der als Mittler zwischen Gott und dem Volk leidet, stellvertretend die Sühne für die Schuld übernimmt, den Tod findet und schließlich von Gott erhöht wird. Im Judentum – und in der rein historischen Betrachtungsweise – wird nach wie vor kräftig darüber gerätselt, wen Jesaja damit damals gemeint haben könnte. Ist es der Prophet selbst? Steht der Knecht für das Volk Israel? Oder soll es den Messias ankündigen – was aber nach jüdischem Verständnis nicht zu dem vorhergesagten Leiden und Tod passen würde. Rätsel über Rätsel.
Nun, wenn du das erste Gottesknechtslied Jesaja 42,1-9 liest, kommt dir vielleicht der Vers 7
irgendwie bekannt vor. Da war doch was? Richtig, in Lukas 4,16-21 bezieht Jesus diese Worte aus Jesaja auf sich selbst: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Und wenn du die Gottesknechtslieder in einer Bibelausgabe mit Parallelstellen liest – das sind die kleinen Bibelstellen, auf die zu einem Vers im Kleingedruckten hingewiesen wird –, wirst du feststellen, dass es Unmengen von Parallelen ins Neue Testament gibt. Immer wieder werden diese Jesajaworte wörtlich oder in Andeutungen zitiert. Sie wurden in der jungen Christenheit zu so etwas wie der biblische Generalschlüssel, um Jesu Leben, Tod und Auferstehung zu verstehen.
In Lukas 24,44-47 lesen wir, dass Jesus nach seiner Auferstehung die Jünger gelehrt hat, wie sie alles aus der damaligen Bibel, unserem Alten Testament heraus verstehen können: Darauf öffnete er ihren Sinn für das Verständnis der Schriften. Leider wird uns nicht mitgeteilt, was genau Jesus ihnen gesagt hat. Wir können aber davon ausgehen, dass die Gottesknechtslieder darin eine wesentliche Rolle gespielt haben.
Damit beenden wir unseren kleinen historischen Ausflug rund um unseren Wochenvers. Wir können feststellen: Wenn wir nur die Zeit von (Deutero)Jesaja anschauen, dann hören wir zwar ein Trostwort Gottes für sein Volk im Exil in Babylon. Es bleibt aber das Rätsel, wer denn nun mit dem Knecht Gottes gemeint gewesen sein könnte.
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Wir lesen aber diese Texte auch von
Jesus her, wir folgen also seiner Deutung und der von der frühen Christenheit, wie wir sie im Neuen Testament finden. Und dann bekommen sie noch einmal eine ganz andere Dynamik. Wir hören darin Jesu Wort als dem Auferstandenen an uns persönlich, an uns als Gemeinde. Wir können dieses Bild auf uns deuten und den Zuspruch wahrnehmen: Ich bin mit euch, auch wenn ihr am Boden liegt. Ich mache nicht mit euch Schluss, sondern wir machen gemeinsam weiter.
Diese Botschaft sollen wir hören in einer Welt, die oft nach ganz anderen Maßstäben funktioniert. ‚Wer am Boden liegt, der wird auch noch getreten.‘ So ist es schon immer gewesen, und so wird es uns täglich vorgeführt. Schwäche wird ausgenutzt, Fehler werden ausgeschlachtet, Menschen werden rücksichtslos fertig gemacht. Darunter leiden wir, das macht uns vorsichtig, oft genug unsicher und zögerlich. Nur keine Fehler machen, keine Schwäche zeigen.
Und nun stehen wir in der Gefahr, diese Erfahrung auch auf Gott zu übertragen. Wenn ich sündige, dann wird er mich ablehnen, wird er mir das vorhalten, wird er mir seinen Segen entziehen. Wenn ich geistlich nicht wachse – was auch immer das bedeuten soll –, dann wird er mich fallen lassen. Womöglich sind die aktuellen Schwierigkeiten ein Zeichen für meine mangelnde Umkehr?
So oder so ähnlich denken wir leider viel zu oft. So oder so ähnlich wurde uns das eingetrichtert. Unser Wochenvers spricht dagegen eine andere Sprache. Weil Gottes Liebe eben ganz anders ist. Siehe 1. Korinther 13,4-8a. Gottes Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf. Jesus hat diese Liebe Gottes gelebt. Er hat die Verwundeten geheilt, die Verzagten aufgerichtet, die am Leben Ermüdeten ermutigt mit Hoffnung. Das ist unser Gott!
Axel Schlüter