Feindesliebe – ein Rechenfehler?

Jesus Christus spricht:
Liebt eure Feinde;
tut denen Gutes, die euch hassen!
Segnet die, die euch verfluchen;
betet für die, die euch beschimpfen!
Lukas 6,27-28

Gleich zu Anfang des Jahres stoßen wir hier auf die wohl herausforderndste Forderung Jesu. Das ist so unmöglich – die Feindesliebe –, dass es nur eine Übertreibung sein kann. So lese ich in einem Kommentar zu dieser Bibelstelle. Und etwas spricht auch dafür; denn in der Parallelstelle in Matthäus 5,43-45 leitet Jesus dieses Wort ein mit: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Während die Nächstenliebe in der Hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, oft gefordert wird, gibt es dort keinen Aufruf zum Feindeshass. Man vermutet, dass Jesus hier eine damals übliche Auslegung der Thora zitiert. Die lag natürlich nahe angesichts der Unterdrückung durch die Römer. Wenn man jeglichen Kontakt meiden soll, liegt der Hass nicht fern.

Nun neigen wir dazu, nur die als Feinde zu sehen, die irgendwo weit weg von uns leben und als Feindbild dienen können. Früher waren es „die Franzosen“ oder „die Russen“ oder „der Amerikaner“. Heute sind es „die Ausländer“ oder „die Grünen“ oder „die Nazis“. Und auf die dreschen wir dann in den (a)sozialen Netzwerken ein. Damit wir nicht in diese Falle tappen, macht Jesus es konkret: Feind ist, der uns hasst oder verflucht oder beschimpft. Das geht nur in einer persönlichen Begegnung. Der Feind oder die Feindin hat einen Namen, steht mit uns in Beziehung. Da wird es erst richtig spannend mit der Feindesliebe.

Wenn wir den ganzen Abschnitt Lukas 6,27-38 lesen, wird deutlich, worum es Jesus geht. Er skizziert, wie ein gewöhnliches Verhalten von Menschen aussieht, die nicht mit ihm leben. Sie tun durchaus viel Gutes, ohne Frage. Und sie machen bei allem eine Rechnung auf. Wie ich dir, so du mir. Eine Hand wäscht die andere. Es schwingt immer ein „Damit“ im Hintergrund mit. Die Römer nannten diese Haltung „do ut des“-Prinzip – auf Lateinisch „ich gebe, damit du gibst“. Das ergab sich geradewegs aus ihrem Verständnis von Religion. Ich gebe den Göttern die notwendigen Opfer, damit sie mir in Gegenleistung den nötigen Segen geben. Glaube als eine Geschäftsbeziehung. Und dieser Glaube prägt dann auch das Miteinander der Menschen. Da gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang.

Wie begründet Jesus, dass sich seine Nachfolgerinnen und Nachfolger so ganz anders verhalten sollten? Eben nicht nach dem „do ut des“-Prinzip? Nun, es liegt an dem ganz anderen Verständnis von Glauben. Es liegt daran, dass die Beziehung zu Gott, dem Vater Jesu Christi, eben kein Geschäft ist. Da wird nicht gerechnet, sondern geliebt. Jesus sagt in Lukas 6,35-36: Doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurück erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne und Töchter des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!

Unser Verhalten soll sich nicht zuerst an dem orientieren, wie man sich üblicherweise verhält, sondern an dem, der für uns gestorben ist, als wir noch Feinde waren (Römer 5,10). Die Feindesliebe ergibt sich also aus unserem Glauben an Jesus, der aus Liebe für uns Feinde ans Kreuz gegangen ist. Als NachfolgerInnen Jesu sind wir herausgefordert, unsere Feinde zu entfeinden. Nicht, weil sie so liebenswert sind, sondern weil wir uns Liebe schenken lassen von Gott, der uns ebenso geliebt hat.

Noch ein letzter Gedanke: Ist diese Forderung Jesu brauchbar für politisches Handeln – zum Beispiel im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine? Dieser Zusammenhang wird ja hier und da hergestellt. Es ist der klassische Konflikt: Ich kann für mich selbst ja bereit sein, die andere Wange hinzuhalten (Lukas 6,29) und damit die Folgen zu tragen. Doch wenn andere Schwächere durch meine Feindesliebe gezwungen werden, sich von diesem Feind auch (er)schlagen zu lassen, dann geht die Rechnung nicht auf. Ein Krieg ist von Grund auf böse und falsch, da gibt es keine Gerechtigkeit. Wir warten auf das Friedensreich, das von Gott kommen wird. Bis dahin aber sind wir leider viel zu oft gezwungen, zwischen vielen schlechten und allzu schlechten Alternativen zu wählen.

Axel Schlüter