Fremde unter uns

Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt,
sollt ihr ihn nicht unterdrücken.
3. Mose 19,33

Als ich diesen Text schreibe, liegt die Bundestagswahl noch vor uns. Doch beim Erscheinen des Gemeindebriefes sollte zumindest die Stimmverteilung klar sein. Und wahrscheinlich geht es gerade um Gespräche zu einer Koalitionsbildung. Den Wahlkampf bewegte bekanntlich vor allem das Thema Migration, gepuscht durch populistische Parteien und leider auch durch die furchtbaren Morde in München, Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg. So bekommt man den Eindruck, als wenn die Einwanderung das größte Problem sei, mit dem sich unser Land herumschlagen müsste.

Nun funktionieren wir anekdotisch und nach dem Sündenbock-Prinzip. Und das wissen vor allem die radikalen Parteien und Medien auszunutzen. Anekdotisch bedeutet, dass es genügt, wenn wir ein oder zwei Geschichten hören, die uns nahe gehen. Das bildet unser Urteil (anekdotische Evidenz/Klarheit). Es mögen umfassende Statistiken und wissenschaftliche Erarbeitungen dagegensprechen (empirische Evidenz) – egal, was zählt ist die persönliche Geschichte. So gedeihen Verschwörungsgeschichten.

Und wir brauchen dringend einen Sündenbock, dem wir die Schuld aufladen können (zum Ursprung siehe 3. Mose 16). Weil es uns die komplizierten Zusammenhänge einfach erklärt und uns entlastet, wo wir vielleicht selbst Verantwortung für etwas übernehmen müssten. Und als Sündenböcke eignen sich hervorragend Menschen oder Gruppen, die anders sind als wir. So beklagt man im rechten Lager die Überfremdung: ‚Wenn ich durch die Fußgängerzone von Stuttgart gehe, sehe ich keine Deutschen mehr – nur Ausländer.‘ Das bedeutet im Klartext: People of Color (PoC’s) können gefühlt keine Deutschen sein. Groß, blond, blauäugig… ‚Ausländer raus!‘ wird anonym an die Hauswand gesprüht. Etwas vornehmer drückt es die Parteivorsitzende aus:
‚Remigration wird man doch wohl noch sagen dürfen.‘

Geht uns das als NachfolgerInnen Jesu etwas an? Oder ist das zu politisch und hat hier nichts verloren? Nun, der Wochenvers bringt etwas zur Sprache, das sich wie ein roter Faden durch die Bibel zieht. Das Volk Israel war versklavt in Ägypten, in der Fremde, und wurde dann durch Gott befreit (Exodus). Die Erinnerung daran soll ihren Umgang mit den Fremden im eigenen Land prägen. Unser Wochenvers steht für viele ähnliche Aussagen in der Bibel: Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott. (3. Mose 19,33-34)

Das wird im Neuen Testament aufgegriffen – angefangen bei der Flucht der jungen Jesusfamilie nach Ägypten. Weiter über die Aussage von Paulus, dass es jetzt in der Gemeinde nicht mehr Juden noch Griechen geben soll, weil doch alle eins in Christus sind (Galater 3,28). Bis hin zu der Perspektive in Offenbarung 21-22, dass alle Völker Heilung in Gottes Gegenwart finden werden.
Leider gab und gibt es immer wieder Bestrebungen, eine Nationalkirche einzurichten – so aktuell in den USA durch die weißen, konservativen Evangelikalen. Das geht immer zu Lasten der Meinungs- und Religionsfreiheit. Nein, die Gemeinde Jesu ist international, sonst verliert sie ihren Auftrag aus dem Blick, Gemeinde für alle Menschen zu sein.

Für Baptisten gehört der Einsatz für Menschenwürde und Religionsfreiheit zur Grund-DNA. Das ist leider im Dritten Reich nicht zum Tragen gekommen. Heute müssen wir aufpassen, dass wir nicht wieder den ausländerfeindlichen Haltungen unserer Tage auf den Leim gehen. Sicher sollen die Probleme der Integration gelöst und Terrorismus verfolgt werden, aber in den Hass und die Abgrenzung gegen Migranten, gegen Menschen in Not dürfen wir dennoch nicht einstimmen.***

Was folgt aus dem Wochenvers für unseren Alltag? Nun, wir treten nicht nur Rassismus und Ausländerfeindlichkeit entgegen, auch wenn es im unmittelbaren Umfeld manchmal schwerfällt. Sondern wir pflegen und fördern in unserer Gemeinde ganz bewusst eine Haltung, die Menschen jeder Herkunft und Kultur, jeden Geschlechts und sozialen Standes willkommen heißt. Und wir versuchen ganz praktisch, an der Integration mitzuwirken. Und nicht zuletzt beten wir, dass Gott dem Bösen eine Grenze setzt, das sich im Moment so ungehindert und menschenfeindlich ausbreitet.

Axel Schlüter

*** Ich verweise auf zwei Stellungnahmen unseres Bundes, die auf der Seite www.befg.de/medien-service/online-lesen/stellungnahmen abrufbar sind: Bundesrat 2019: Der Religionsfreiheit und dem Recht auf Asyl verpflichtet und Resolution Bundesrat 2024: Demokratie und Menschenwürde – Gesellschaft und Staat menschenwürdig mitgestalten.