Migration in Gottes Gegenwart
Kommt her zu mir, alle,
die ihr mühselig und beladen seid;
ich will euch erquicken.
(Matthäus 11,28)
Vor vielen Jahren – in einer anderen Gemeinde – hatten wir einen Bibelkreis, an dem auch einige Glaubensgeschwister teilnahmen, die nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind. Da war die Verständigung mitunter nicht ganz einfach. Und einmal sprach eine von ihnen immer von „müselig“ – also alle Vokale kurz ausgesprochen. Und ich musste mich für einen Moment orientieren, bis mir klar war, dass sie „mühselig“ meinte. Und dieses kurzbetonte Müselig habe ich seitdem immer im Ohr, wenn ich unseren Wochenvers* lese.
Das ist aber auch eine ungewöhnliche Vokabel! Kommt sie in unserer Alltagssprache noch vor? Würdest du sagen: Das war aber wieder mühselig! Im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache DWDS kannst du ganz einfach nachschlagen, wie das Wort heutzutage gebraucht wird: https://www.dwds.de/wb/mühselig Es ist ein eher altertümliches Wort; es geht um Belastungen und Mühen und Schwierigkeiten aller Art.
Menschen mit Migrationshintergrund kennen dieses Wort vielleicht nicht oder können es nicht richtig aussprechen, aber sie wissen oft viel mehr über „mühselig“ als Menschen, die ihr Leben lang am gleichen Ort zu Hause bleiben durften. Leider spielt das Thema „Flucht und Vertreibung“ heutzutage eine große Rolle. Der Erfolg der rechten Parteien bei der Europawahl hat auch damit zu tun, dass sie einfache und unmenschliche Antworten auf diese sehr komplexe Wirklichkeit geben. Und wie man es dreht und wendet, die Leidtragenden sind immer diejenigen, die ohnehin schon genug zu erleiden haben. Laut der UNO-Flüchtlingshilfe sind mehr als 120 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht (siehe hier). Die wenigsten davon haben sich freiwillig auf den oft genug lebensgefährlichen Weg ins Unbekannte gemacht.
Und leider sind auch wir Christen nicht immun dagegen, unsere Herzen hart zu machen. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr mitunter gerade die ablehnend sind, die in ihrer Familie selber eine Fluchtgeschichte hinter sich haben. Nach dem Motto: „Wir mussten uns durchbeißen, bis wie hier richtig angekommen sind. Und den Asylsuchenden oder Flüchtlingen – aus Afghanistan oder der Ukraine – wird alles nachgeschmissen.“ Wer sich aber in diesem Bereich engagiert, weiß um die Schwierigkeiten der Integration in einem fremden Land. Gilt nicht auch für Migranten das Wort aus 3. Mose 19,33-34: Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott.
Hat das etwas mit unserem Wochenvers zu tun? Sehr viel, wenn wir diesen ermutigenden Bibelvers nicht nur isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang ansehen. In den Inspirationen zum 2. Juni ging es in Lukas 10 (das ist die Parallelstelle zu unseren Versen) um die Sendung Jesu, die Mission. Jesus sendet immer zwei seiner Jünger in die umliegenden Dörfer, um das Evangelium zu verkündigen und sein Kommen vorzubereiten. Und Jesus macht deutlich, dass diese gute Botschaft sehr unterschiedlich aufgenommen werden wird. Und sowohl Lukas 10 als auch Matthäus 11 enden mit seinem Lobpreis, dass der Vater im Himmel die gute Nachricht besonders denen offenbart, die in der Gesellschaft abseitsstehen: Matthäus 11,25-30; Lukas 10,21-24.
Soziale Ungerechtigkeit war in den antiken Gesellschaften die üble Normalität: Es gab wenige Prozente reiche und wohlhabende Leute, dann vielleicht zehn Prozent „Mittelstand“ (Bauern, Handwerker) und der Rest war arm: Tagelöhner mit ihren Familien, Sklaven, Bettler. Gerade zur Zeit Jesu war die Lage in Israel noch einmal dramatisch zugespitzt. Alle litten unter den übermäßigen Steuern der römischen Besatzung. Und dazu beuteten König Herodes der Große und seine Nachfolger die Menschen noch stärker als gewöhnlich aus, weil die beeindruckenden Bauten (Städte, Häfen, der Tempel) ja irgendwie finanziert werden mussten. Es war wie immer: Ein paar wenige Oligarchen profitierten, viele Normalbürger mussten ums Überleben kämpfen und noch viele Leute mehr rutschten gesellschaftlich ab.
Auch wenn Jesus nichts grundsätzlich gegen wohlhabende Leute hatte, so war sein Herz immer eher bei den Armen und Ausgestoßenen der Gesellschaft. Er hat ihnen Beachtung und Würde gegeben, er hat ihnen die Liebe Gottes ganz nahe gebracht. Wenn Jesus in unserem Wochenvers die Mühseligen und Beladen anspricht, dann meint das zuerst diese Menschen. Ihnen gilt seine Zusage, dass er sie erquicken will. Wieder so eine ungebräuchliche Vokabel. Es meint, dass Jesus sie in Gottes Gegenwart führt, dass sie Gottes Liebe und Zuwendung erfahren werden. Und es ist offensichtlich, dass Gott wohl etwas anders ist, als ihnen das von den üblichen Religionsspezialisten gepredigt wurde: Ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht. (Matthäus 11,29-30)
Was könnte das für uns heute bedeuten? Zunächst dürfen wir uns angesprochen fühlen, wenn wir mühselig und beladen sind. Dieser Zuspruch Jesu gilt uns, auch wenn wir wahrscheinlich nicht zu den Armen und Ausgestoßenen unserer Zeit gehören. Du bist eingeladen, Dich von Gott erquicken zu lassen, seine Zuwendung, Liebe und Ermutigung zu erfahren. Aber gleichzeitig steckt darin auch die Aufforderung, diese Liebe Gottes den Menschen zukommen zu lassen, die nicht zu den Privilegierten gehören. Wir können Geld spenden – unser Kirchenbund BEFG ist auch in der Flüchtlingshilfe tätig. (Details hier)** Vielleicht haben wir die Möglichkeit, praktisch zu helfen. Auf jeden Fall wollen wir als Gemeinde ein offenes Haus und offene Ohren für alle Menschen haben. Egal woher sie kommen.
Vielleicht ist es auch guter Schritt, gezielt mit den Menschen unserer Gemeinde (oder in unserem Stadtviertel?) ins Gespräch zu kommen, die eine Migrationsgeschichte hinter sich haben. Wie es ihnen ergangen ist, wie es ihnen heute geht, wo sie vielleicht Hilfe brauchen. Einfach mal nachfragen und zuhören, sich die Lebensgeschichte erzählen lassen. Ohne gute Ratschläge zu verteilen oder gar erziehen zu wollen.
Jeder soll bei uns nicht nur willkommen sein, sondern angenommen, geachtet, gewürdigt werden. Bei uns soll nicht gelten: Du bist willkommen, wie du bist – und dann verändern wir dich, bis du zu uns passt. Sondern es soll gelten: Du bist willkommen, wie du bist – und dann begeben wir uns gemeinsam in eine Lebens- und Lerngemeinschaft.
Ich wünsche dir/euch eine gesegnete Woche!
Axel Schlüter
* Vielleicht ist es dir aufgefallen: Ich habe die offiziellen Wochenverse vertauscht. Am 9.6. wäre eigentlich Matthäus 11,28 dran gewesen und Lukas 19,10 erst in dieser Woche. Ich bitte, diese Unachtsamkeit zu entschuldigen. 🫤
** Unter der Überschrift Das Licht weitertragen erreicht uns ein besonderer Spendenaufruf
für das BUJU – das Bundesjugendtreffen Ende Juli 2024:
100 Euro finanzieren ganz konkret einen vergünstigten Platz für junge Menschen, die nach Deutschland geflohen sind und sich das BUJU ohne Unterstützung nicht leisten könnten. Letztlich hilft jede Spende für das BUJU jungen Menschen, damit diese eine Entscheidung für Jesus treffen können. Auf diese Weise geben Spender so das Licht der Liebe Gottes an die Jugend weiter: Travelling Light