Nehmt einander an

Wo fühle ich mich wohl? Da, wo ich sein darf, wie ich bin. Wo ich mich nicht verbiegen muss, um gemocht oder gar geliebt zu werden. Wo ich mit meinen Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen ernstgenommen werde. Wo ich keine Angst haben muss, abgeschrieben oder ausgestoßen zu werden, wenn ich nicht so funktioniere, wie es von mir erwartet wird.
Welche Orte fallen mir da ein? Ist es vielleicht die eigene Ehe, meine Familie, mein Arbeitsplatz? Sind es Freunde? Letztere kann ich mir bekanntlich aussuchen… – Ganz anderes als das gerade aufgezählte, hat Paulus im Blick, wenn er am Ende seines Briefes an die Christen in Rom schreibt:
„Nehmt einander an.“ An was für eine Gemeinde richtet Paulus solche Worte? Nun, er richtet sich mit dieser Aufforderung an eine bunte Mischung von Christen, an solche mit heidnischen und jüdischen Wurzeln. Und schon damals war es genauso wie heute auch: wenn unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, kann es zu Differenzen kommen. Unterschiedliche Meinungen über „den einzig richtigen christlichen Lebensstil“ führen dazu, dass sie sich gegenseitig verunsichern und sich ein schlechtes Gewissen machen. Sie verachten und verurteilen einander. In den Köpfen und Herzen entsteht eine Aufteilung in Starke und Schwache im Glauben. Der Streit darüber droht die Gemeinde zu zerreißen. Kennen wir solche Gedanken nicht auch bei uns? Der oder die, die machen das nicht richtig, weil sie das Kreuzzeichen machen, oder die Hände beim Singen heben oder beim Singen nicht aufstehen oder sitzen bleiben. Ganz egal um was es sich handelt, wir haben oft genaue Vorstellungen, wie ein „richtiger“ Christ die Dinge tun muss.
Obwohl der Römerbrief schon so alt ist, ist doch die Thematik brandaktuell. Streit und Spaltung gehören seit jeher zur politischen Tagesordnung. Leider auch zu der in unseren Gemeinden und Kirchen. Sie könnten, so malt es Paulus den Konfliktparteien vor Augen, Orte der Freude und der Hoffnung sein, wo alle darauf bedacht sind, sich gegenseitig aufzubauen, einander zu achten und zu lieben. Oasen der gegenseitigen Ermutigung und des Friedens untereinander, das könnten Gemeinden sein.
Sollte das alles nur ein frommer Wunsch sein? Heute fassen wir den Wunsch in Begriffe wie Toleranz, Akzeptanz, Einheit in aller Verschiedenheit. Oft werden diese Attribute gefordert, selten jedoch konsequent umgesetzt. Jedenfalls ist es leichter davon zu reden, und um ein Vielfaches schwerer, es zu tun. Besonders dann, wenn wir noch mal genau hinschauen, was im Text steht.

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.“
Christus, sein bedingungsloses Ja zu euch, seinen Kindern, ist das Bindeglied! Nur durch Christus sind wir in der Lage, einander immer mehr anzunehmen und zu lieben. Weil er uns zuerst geliebt hat und es uns vorlebte, wie wir es heute tun sollen.
Keine gemeinsame Idee oder Aufgabe, keine Lehre und keine Kirche schaffen die Einheit und Annahme, die Christus schafft.
Die Künstlerin Stefanie Bahlinger stellt das in einem Flickenteppich dar (s. Bild). Stücke aus unterschiedlichem Material sind zusammengenäht. Es gibt Teile mit ähnlichen Farben und Mustern – jedoch gleicht keines dem anderen. Manche Stoffe wirken zart, fast durchscheinend, andere eher grob und fest. Die einen sind filigran gemustert, andere einfacher „gestrickt“. Abstrakte und verspielte Muster wechseln sich ab. So bunt kann und soll die Gemeinschaft von Christen aussehen. Das Reich Gottes ist keine Monokultur und übersteigt unseren begrenzten Horizont! Es gibt Felder mit aufgedruckten Worten in unterschiedlichen Sprachen und Schriften. Damit weitet die Künstlerin unseren Blick für die Gemeinschaft von Gläubigen. Längs- und Quernähte verbinden die einzelnen Elemente. Einige verlaufen schief und krumm. Trotzdem verbinden sie und erscheinen im Gesamtbild als Kreuze.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.“ Das ist mehr als Toleranz um ihrer selbst willen. Mehr als ein alle Unterschiedlichkeiten umspannendes Wir-Gefühl. Weil eben nicht alles gut wird, so sehr wir Menschen auch darum bemüht sind. Was uns von Gott und einander trennt, trug Jesus ans Kreuz. Er heilt uns und unser verletztes Miteinander. Da spielt es keine Rolle, wer die Starken und wer die Schwachen sind. Welche Tradition wir im Gepäck oder welchen „christlichen Stammbaum“ wir haben, wie lange wir schon im Glauben leben oder welche Sprache wir sprechen, welcher Kultur oder welchem Milieu wir angehören, wie alt wir sind, ob wir Mann oder Frau sind. Diese Trennungen spielen keine Rolle, wenn es darum geht, einander anzunehmen und zu lieben. Denn Paulus sagt ebenfalls im Römerbrief, vor Gott sind alle Menschen gleich. Und wenn er keine Unterschiede macht, wer sind wir dann, dass wir das tun?
„Wie Christus euch angenommen hat“, heißt es in dem Vers. Wie hat Jesus es denn getan? Wie würdest du die Attribute für Jesus Art und Weise, Menschen anzunehmen, beschreiben? Was liest du in der Bibel darüber?
Es war immer wieder überraschend und auch oft Grund zur Empörung, mit wem Jesus Tischgemeinschaft hatte! Bei ihm gab und gibt es keine geschlossene Gesellschaft. Jesus lädt ein in eine lebendige Gemeinschaft. Sie ist nichts Statisches, ein für alle Mal Gepachtetes, Fertiges. Die Enden des Flickenteppichs auf dem Bild sind lose und offen mit vielen Anknüpfungspunkten. Gemeinde bleibt immer Stückwerk, wie der Flickenteppich in dem Bild. Sie ist, so lange sie besteht, nie fertig. Sie darf nie fertig sein, denn sonst wird sie zur geschlossenen Gesellschaft und grenzt automatisch aus. Und trotzdem ist sie in den Augen Gottes von unschätzbarem Wert. Wie Christen leben, ist nicht egal oder beliebig. Auch nicht, wie sie ihr Miteinander leben und gestalten. Ihr Leben und Miteinander sollen nur einem dienen: dem Lob Gottes. Das verleiht ihnen eine Würde, an die nicht nur die Christen in Rom immer wieder erinnert werden müssen.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Schwebt da etwa ein Heiligenschein über dem Flickenteppich? Oder geht er von ihm aus? Wir glänzen gerne mit wachsenden Gemeinden, phantasievollen Gottesdiensten, schönen Liturgien, anspruchsvoller Musik. Doch sie dienen nicht automatisch dem Lob Gottes. Wie wir miteinander umgehen, ob Christus die Nahtstelle zwischen uns ist, das macht echten „Glanz“ aus. Lob Gottes ist eine Lebensaufgabe, ein Lebensstil. Letztlich geht es darum, ob unser Leben und Miteinander über uns selbst hinausweisen auf den hin, der dem Flickenteppich den Glanz verleiht. Wir sind Teil von Gottes Herrlichkeit. Ihr Glanz liegt über dem Stückwerk unseres Lebens und Miteinanders.
Der leuchtende Kreis erinnert auch an eine Lupe, die dazu einlädt, genauer hinzusehen. Unser
Leben im Lichte Gottes zu betrachten, die Schönheit der einzelnen Stücke zu entdecken – und rechtzeitig zu merken, wo eine Naht zu reißen droht… Der leuchtende Kreis lädt dazu ein, anzuknüpfen, sich einzubringen, seinen Platz zu entdecken und ihn einzunehmen. Gemeinde Jesu kann so zu einem Ort werden, an dem ich mich wohl fühle und wo ich sein darf, weil ich geliebt werde, von Christus zuerst, und dann von meinen Mitmenschen.

Wenn wir in und durch Christus leben, hin zu unserem Nächsten, dann loben wir damit Gott, unseren Schöpfer.

Bild: Stefanie Bahlinger, Verlag Am Birnbach

Unter dem Titel MuM's – Mutmachende M's – schreibt unsere Pastorin Ana Kadira jeden Montag und Mittwoch mutmachende Texte, die uns durch die Corona-Zeit helfen.