Vom Atem des Lebens zum Lob Gottes

Lobe den HERRN, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
(Psalm 103,2)

Vielleicht geht es dir ja auch so: Wenn du diesen Psalmvers liest, stimmst du innerlich oder auch laut und fröhlich ein Loblied an. Zum Beispiel „Lobe den Herrn meine Seele, und seinen heiligen Namen.“ (Norbert Kissel 1991) oder etwas neuer „Lobe den Herrn meine Seele, meine Seele lobe den Herrn.“ (Albert Frey 2004). Und gleich stellt sich so ein „seelenerhebendes“ Gefühl ein. Da kommt etwas in Schwingung. Natürlich könnten wir Bibelworte, biblische Gedichte oder Gebete nur vorlesen oder vortragen. Wenn wir sie aber als Lieder singen, sind wir mit wesentlich mehr Sinnen beteiligt. Das nimmt uns als ganzen Menschen mit hinein.

Was aber meint eigentlich „meine Seele“? Der Psalmbeter redet hier zuerst mit sich selbst. Er fordert sich zum Lob Gottes auf. Es ist ein bisschen so, wie wenn man mit sich selber in der dritten Person redet: „Da musst du jetzt aber aufpassen!“ – „Nun streng dich mal etwas an!“ Die Aufforderung „Lobe den HERRN, meine Seele!“ bildet den Rahmen für den Psalm 103. Dazwischen wird erzählt, was Gott getan hat, was wir daraus über Gott und uns selbst lernen können. Und was daraus folgt. Der Psalm spiegelt die ganze Fülle eines Lebens aus Gottes Gegenwart.

Aber noch einmal: Was meint hier „Seele“? Was ist das überhaupt? Es gab mal die zweifelhaften Versuche, das Gewicht der Seele zu berechnen. Jemand hat ganz ‚wissenschaftlich‘ gemessen, wie schwer Sterbenden vor und nach ihrem Tod waren. Die Ergebnisse konnte man getrost gleich wieder vergessen. Der Versuchsaufbau ergab sich aus der Überzeugung, dass die Seele beim Tod den Körper verlässt. Du kennst wahrscheinlich entsprechende Karikaturen, wo die Seele mit Flügelchen zum Himmel auffährt.

Diese Lehre hat sich erst im Laufe der Kirchengeschichte entwickelt. Sie ist stark vom antiken griechischen Denken beeinflusst, wo man strikt zwischen Leib und Seele oder Geist unterscheidet. Der Körper ist nur der Aufbewahrungsbehälter für die wirklich wichtigen Sachen. Es kommt auf die Seele oder den Geist an. Aus dieser Überzeugung folgten zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen: Entweder konnte man mit dem Körper machen, was man wollte, weil er völlig unwichtig war. Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot! (1. Korinther 15,32 Das ist auch der Hintergrund für die Mahnungen von Paulus in 1. Korinther 6,12-20. Er muss den griechisch geprägten Leuten deutlich machen, dass auch der Leib zu der geistlichen Wirklichkeit des Gläubigen gehört.)

Oder aber man musste den Leib soweit wie möglich beschränken, weil er den Geist zur Sünde verführt. Es fällt nicht schwer zu raten, welche Haltung in der Christenheit Karriere gemacht hat. Spätestens seit dem Kirchenvater Augustinus gab es eine theologisch fragwürdige Begründung für die enorme Leibfeindlichkeit in den Kirchen und Gemeinden. Und von daher verlässt beim Tod die reine Seele den unreinen, „fleischlichen“ Körper und fährt in den Himmel auf. Hoffentlich. Oder sie wird in die Hölle geworfen. Je nachdem.

Wie gesagt, da hatte sich der griechische philosophische Leib-Seele-Dualismus durchgesetzt. In der Bibel finden wir aber durchweg eine andere Haltung. Da wird der Mensch als Ganzes gesehen. Mit Körper, Seele, Geist, Herz, Vernunft und anderen Bezeichnungen werden verschiedene Aspekte des einen Menschen unterschieden. Da wird nicht aufgeteilt und getrennt, sondern es werden nur verschiedene Bereiche angesprochen. Heutzutage versuchen wir in einer ganzheitlichen Medizin diese Wirklichkeit wieder wahrzunehmen. Der Körper ist keine Maschine, die separat für sich funktioniert, sondern alles hängt mit allem zusammen.

In unserem Psalm 103 steht im hebräischen Original das Wort näfäsch, das hier mit Seele übersetzt wurde. Andere nehmen auch mal Herz oder umschreiben diesen Ausdruck. Das hebräische Wort meint eigentlich ursprünglich die Kehle. Und die Kehle ist fürs Luftholen zuständig. Und da ein Mensch lebt, solange er atmet, steht näfäsch für das Leben an sich. Es geht ums Lebendigsein in allen seinen Aspekten. Deshalb handelt der Psalm 103 auch von dieser Vielfalt des Lebens.

Eine angemessene Übersetzung wäre demnach: „Lobe den HERRN, alles, was mich lebendig macht.“ Oder „Lobe den HERRN mit meinem ganzen Leben.“ Und da gehört zwar ohne Frage alles dazu, was wir für gewöhnlich mit Seele verbinden. Darüber hinaus werden aber auch unser Körper, unser Geist und Verstand, unsere Gefühle und Stimmungen zum Lob Gottes aufgefordert. Weil uns aber zum Gotteslob oftmals nicht so richtig was einfällt, bildet diese Aufforderung nur den Rahmen für den ganzen Psalm. Dazwischen werden uns viele unterschiedliche Themen genannt, die das Leben ausmachen und uns Anregungen geben, wie und wofür wird Gott loben können.
Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!

Axel Schlüter